Hedwig Brauns
Die Situation vor der Vereinsgründung
Bereits im Jahr 1893 fanden sich erblindete Bielefelder Bürger zwanglos zu einem Freundeskreis zusammen. Auf den 1902 die sehende Sprachlehrerin Hedwig Brauns (1875 - 1962) aufmerksam wurde.
Sie hatte schon frühzeitig Erfahrungen im Umgang mit Blinden sammeln können. Als junges Mädchen las sie dem damals in Bielefeld bekannten Oberlehrer am Bielefelder Gymnasium Dr. Karl Schütz (1805 - 1892) nach dessen Erblindung vor. Während ihrer Sprachstudien im Ausland knüpfte sie Kontakte zu Blindenorganisationen anderer europäischer Länder und lernte die Probleme der Blinden näher kennen.
Im Bielefelder Frauenverein machte sie 1902/1903 durch Vorträge auf die schwierige Situation der Blinden aufmerksam. Sie warb für den Absatz der von den zumeist selbstständigen blinden Handwerkern hergestellten Erzeugnisse und trug wesentlich dazu bei, deren Existenz zu sichern. Durch ihren unermüdlichen Einsatz gelang es Hedwig Brauns, weitere Blinde, nicht nur aus Bielefeld, sondern auch aus dem gesamten ostwestfälisch-lippischen Raum, auf den Freundeskreis aufmerksam zu machen.
Die Treffen fanden fortan in ihrem Elternhaus an der damaligen Grabenstrasse statt. Eine tatkräftige Förderin fand sie in ihrer Mutter. Bei den Zusammenkünften reifte auch allmählich der Gedanke zur Gründung eines Blindenvereins.
Die Zeit von 1912 - 1945
Der Vereinsgründung voran ging im November 1911 eine Ausstellung im alten Bielefelder Rathaus, in der das Können der blinden Handwerker gezeigt, aber auch das Schreiben und Lesen der Blindenschrift und das Schreiben eines Blinden auf einer Normalschreibmaschine demonstriert wurden. Am 07. Januar 1912 fand dann schließlich ebenfalls im Sitzungssaal des alten Rathauses die konstituierende Versammlung zur Gründung des "Blindenvereins für Bielefeld und Umgegend" statt; erste Vorsitzende wurde Hedwig Brauns. Die Satzung wurde am 20.02.1912 durch die Polizeibehörde bestätigt.
§ 1 der Satzung: "Der am 07. Januar 1912 gegründete Blindenverein für 'Bielefeld und Umgegend' hat die Aufgabe, seine Mitglieder in wirtschaftlicher und geistiger Beziehung zu heben und unter Ausschluss der Erörterung religiöser und politischer Fragen eine edle Geselligkeit zu pflegen". Die Vereinsgründung regte zu verstärkten Aktivitäten an. Mittelpunkt für Zusammenkünfte war weiterhin das Haus der Familie Brauns, so dass hier die Keimzelle des Vereins zu suchen ist. Dort wurde auch die erste Vereinsgeschäftsstelle eingerichtet. Bereits in der auf die Vereinsgründung folgenden Versammlung wurde beschlossen ein Plakat zu schaffen, das auf die berufstätigen Blinden aufmerksam machen und für den Absatz der von ihnen hergestellten qualitativ guten handwerklichen Waren werben sollte. Nachdem im Juni 1912 der Reichsdeutsche Blindenverband (der jetzige Deutsche Blindenverband) gegründet worden war, schloss sich diesem der Blindenverein für Bielefeld und Umgegend sofort an.
Die rege Vereinstätigkeit, nicht zuletzt aber wahrscheinlich auch die vielen Kontakte, die Hedwig Brauns durch ihre Reisen und Vorträge zu führenden Persönlichkeiten des Blindenbildungswesens in Deutschland hatte, waren wahrscheinlich der Anlass für den Reichsdeutschen Blindenverband, in der Zeit vom 29. bis 31. Juli 1914 seinen Verbandstag im Lindenhof in Bielefeld abzuhalten. Wie der vom Deutschen Blindenverband herausgegebenen Broschüre "Werden und Wachsen der Deutschen Blindenselbsthilfe" zu entnehmen ist, mussten die Beratungen wegen des bevorstehenden Ausbruchs des ersten Weltkrieges vorzeitig abgebrochen werden. Immerhin wurde der bedeutende Beschluss gefasst, dass Verbandsorgan "Die Blindenwelt" künftig auch in Punktschrift herauszugeben. Die Kriegsjahre waren gekennzeichnet durch das Bemühen, in erster Linie wiederum durch Hedwig Brauns, die materielle Not auch unter den Blinden zu mildern, Rohstoffe für die blinden Handwerker zu beschaffen und die in den Bielefelder Lazaretten liegenden kriegsblinden Schicksalsgefährten zu betreuen. Das Jahr 1921 brachte den Zusammenschluss der inzwischen in Westfalen gegründeten örtlichen Blindenvereine zum Westfälischen Blindenverein e.V. (WBV). Es war keine Frage, dass sich auch der Bielefelder Verein dieser überregionalen Organisation sofort anschloss. Die Forderung, dass künftig nur noch ein Blinder Vorsitzender einer der dem WBV angehörenden Bezirksgruppen für die Städte und Kreise im Vereinsgebiet sein sollte, akzeptierte infolge ihrer uneigennützigen Einstellung auch die bisherige sehende Vorsitzende des Bielefelder Blindenvereins Hedwig Brauns. An ihre Stelle trat als erster blinder Vorsitzender der Kriegsblinde Werner Seydel. Aus Anerkennung für ihre bisher um das Blindenwesen in Bielefeld erworbenen Verdienste wurde Hedwig Brauns zur Ehrenvorsitzenden gewählt. Eine weitere Anerkennung ihrer vorbildlichen Arbeit erfolgte später indem man ihr das Recht zusprach, die Bezeichnung Schwester zu führen. Fortan war sie nur noch unter dem Namen Schwester Hedwig, Mutter der Blinden in Bielefeld, bekannt.
Die Anzahl der Blinden, die sich einem Blindenverein anschlossen, wuchs nun ständig. Um eine optimale Betreuung der Mitglieder im ostwestfälisch-lippischen Raum zu erreichen, wurden in den Jahren 1923 - 1926 Bezirksgruppen des WBV in Herford, Detmold, Lübbecke und Minden gegründet. In Gütersloh entstand eine solche erst 1946.
Herausragendes Ereignis dieser Epoche war, ähnlich wie im Jahr 1911, eine Ausstellung über das Blindenwesen in der Zeit vom 30. November bis 07. Dezember 1924. Große Anstrengungen von Seiten des Vereins wurden in den zwanziger und dreißiger Jahren gemacht, um den Vereinsmitgliedern das Leben in der Gesellschaft, vor allem die Teilnahme am kulturellen Geschehen, zu ermöglichen und zu erleichtern. Das in dieser Zeit neu geschaffene Medium Rundfunk kam diesen Bemühungen sehr entgegen. Der Verein war deshalb auch bei der Beschaffung von Rundfunkempfängern behilflich. Durch Verhandlungen mit den zuständigen Stellen wurde ferner erreicht, dass Blinde und ihre Begleiter freien Eintritt bei Theater- und Konzertbesuchen sowie bei Benutzung der Straßenbahn erhielten.
Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 erging es dem Blindenverein nicht anders als den meisten Vereinen. Durch die verfügte Gleichschaltung und den Anschluss an die NS-Volkswohlfahrt verlor der Verein die Möglichkeit zu freiem, selbstständigen Handeln. Trotzdem wurde das fünfundzwanzigjährige Vereinsjubiläum im Jahre 1937 festlich begangen, nachdem der Vereinsvorsitz von Werner Seydel auf den Theologielehrer Dr. Siegfried Goebel übergegangen war. Die Vereinsgeschäftsstelle wurde von der Hermannstraße nach Bielefeld - Bethel verlegt.
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